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Preisträger Lucas Thiem

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Lucas Thiem, Klasse 12, Gymnasium Carolinum Neustrelitz

1. Weihnachtsfeiertag, 25.12.2009
16:31 Uhr

Ich war gerade weinen, während die letzten blutroten Streifen am wolkenfreien Himmel in ein majestätisches Schwarz getüncht wurden. Jeden Tag empfinde ich dieses verfluchte Bedürfnis, unbedingt laufen gehen zu müssen. Soeben fand ich mich auf einem mit schon wässrigem Matsch übersäten Kopfsteinpflaster wieder, als ich ohne triftigen Grund von meinen ständigen Gedankenspielen aufschreckte. Mir kam just in den gestörten Sinn, wie tief versunken ich doch erneut war, wie Kopf und Geist sich langsam trennten und plötzlich abermals ruckartig bündelten. In dieser bedauernswerten Realisierung meiner gegenwärtigen Lage bemerkte ich zudem, dass ich unheimlich schnell unterwegs war. Die anfangs schweren Beine werden irgendwann federleicht. Man beginnt zu schweben, der wechselhafte Boden unter einem zieht traumhaft vorbei, genauso wie die bildhübschen Waldszenerien um einen herum. Und dann sind da nur noch du und dein ruhiger, entschlossener Atem. Und der Rest ist egal.
Meine geistigen Abschweifungen lenkten mich leider nur kurz ab. Es betraf übrigens wiederholt exakt dieselbe seltsame Stelle meiner gewöhnlichen Strecke. Im letzen Jahr rannte ich mindestens geschlagene einhundert Male dort entlang. Ich glaube, mir kamen bei mehr als der Hälfte dieser zweifellos nötigen Passagen hemmungslose Tränen. Es ist der befreiende Moment, wenn du einen kleineren Anstieg erklimmst und bis dahin kilometerweit nur von einengenden Laubbäumen umgeben warst und sich auf einmal das bestimmende Gehölz lichtet, unmittelbar an dem hohen Punkte, wo du die aussichtsplattförmige Spitze des nichtsdestotrotz anstrengenden Bergs erreichst. Nun kannst du zu beiden Seiten deiner berüchtigten Straße weitreichende, bunt sprießende Felder vor dir erblicken, jedoch – und das ist im aktuellen Winter wahrscheinlicher – ebenso erstarrtes, mattgraues Terrain, dessen enttäuschender Anblick sich bald in der nahen Ferne verlieren möchte.
Auch heute spiegelte sich in diesem vertrauten Augenblick mein gesamtes Leben im wunderschönen Horizont wider – der unvermeidbare Untergang der strahlenden Sonne. So ekelhaft pathetisch es klingen mag, so viel unumstößliche Wahrheit steckt dennoch dahinter. Ich stoße überall auf diese unheilvollen Metaphern. Meine perfekt choreografierte und auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Jugend stellt die erste Halbzeit dar, wohingegen die zweite Spielhälfte mit dem zukünftigen Erwachsenendasein gleichzusetzen ist. Wenn du vor der eigentlich erfrischenden Pause motiviert 3 zu 0 führst, doch letztendlich mit 5:2 vom umkämpften Platz wankst, dann befriedigt dich das nicht. Erst einmal am hart erarbeiteten Zenit angelangt, bleibt dir gar nichts anderes mehr übrig, als erbarmungslos abzustürzen, wobei es schlicht nicht von Belang ist, ob du noch ein Stück weiter auf dem Gipfel wanderst oder nicht, weil du das unumgängliche Ende anrücken siehst und von nun an deinem unausweichlichen Schicksal nur noch mit fortwährender Angst begegnest.
Derart traurige Fetzen suchen mich tatsächlich am angeblich besinnlichen Weihnachtsfest heim. Und da sie mittlerweile seit quälenden Monaten an mir zehren, habe ich mich überraschend dazu entschlossen, die günstige Gelegenheit jetzt und hier am einladenden Schopfe zu packen, um ihnen den verdammten Garaus zu bereiten, den sie längst benötigt hätten. Denn wann würdest du dich zugänglicher verhalten als an diesem allgemein fröhlichen Tage?

1. Weihnachtsfeiertag, 25.12.2009
16:58 Uhr

Es gibt nur noch das Notebook, die Dunkelheit und mich. Es interessiert meine verbliebenen Emotionen wenig, wie du reagieren wirst. Zumindest bemühe ich mich, mir das einzureden. Bisher klappte es nicht gut. Ich mach das für mein geschundenes Gewissen und dieses hoffte, das Ganze sei - salopp gesagt - geil, es suchte den Kick, und es fand ihn, weitaus monumentaler und grenzübergreifender, als man es jemals gewagt hatte ihn anzunehmen. Aha.
Das unverzichtbare Notebook ist mein wichtigster Gebrauchsgegenstand. Manche meinen, er hätte deinen leeren Platz eingenommen. Warum ich ihn mit mir führe? Weil ich erst vorhin diesen mit der großen Erde vernetzten Blog erstellte. Angeboren ist mir ein unvorteilhaftes Timbre: Ich neige dazu, in spannungsgeladenen Diskussionen die noch nicht zur Sprache gebrachten Worte im Nachhinein anzuhängen. Ich befürchte bloß, dass ich bei dir nicht in diesen ungeduldigen Genuss kommen werde und lege meine undurchsichtigen Denkweisen darum mit seiner Hilfe für die wissbegierige Nachwelt geordnet abstrakt fest. Die umfassende Dunkelheit ist gleichermaßen ein essentieller Bestandteil meiner ungelungenen Tarnung. Mein verwahrlostes Gesicht ist nämlich die wuchernde Unästhetik schlechthin. Fünf Tage gewachsener Bartansatz, tiefdunkle Tränensäcke und eine von der fahlen Iris ausgehende schwache Aura prägen die eingefallene Fassade. Das innovative Wundermittel von umworbener Hautcrème sorgt zwar für porentiefe Reinigung, negativ fällt allerdings auf, dass auch sämtliche Talgproduktion gestoppt wurde und sich meine immer schon problematische Mundpartie nie trockener anfühlte. Das zehrt natürlich an den rissigen Nerven. Besonders heute.
Außerdem bin da noch ich, aufgeteilter denn je in Es, Ich und Überich. Grundgütiger, du hast mich nie verstanden, demzufolge wird das auch heute nicht der eintretende Fall sein, also scheiß dir nicht ein, Lucas! Warum sollten dich unbeteiligte Beobachter besser begreifen als du dich selbst?
Ist das nun überhaupt von Belang? Ich weiß es nicht.
Was hundertprozentig von Belang ist? Eine von sieben unendlichen Meilen ist gestiefelt. Unnachlässig kamen und verschwanden jahreszeitlich passende Gartendekorationen, in regelmäßigen Abständen an veralteten Laternen angebrachte Leuchtsternornamente und kitschige Fensterbehänge. Nach der cortisolabbauenden Joggrunde habe ich nicht mehr als ausgiebig geduscht und die verschwitzten Anziehsachen mit frischer Kleidung ausgetauscht. Ich las früher schrankenlos. Da hieß es unter anderem, dass süße Kleinkinder am meisten auf den identifizierenden Geruch des jeweiligen Gegenübers achten. Im Anschluss wechselte ich noch zwischen latentem Müßiggang und frivolem Ansporn, danach ritt ich sofort los. Der unerschrockene Jediritter samt rosa Laserschwert und edelweißem Schimmel. Desto weiter mich meine beiden linken Füße trugen, desto zunehmender fühlte ich mich abgestoßen von meinem treuen Begleiter. Das muss wohl Zuneigung sein: Irgendwann nimmst du in Kauf, dass du mutlos zurückbleiben wirst, wenn du dich dafür wenigstens selbst verklären darfst. A propos „Ritt“: Ach, lassen wir das.
Meiner gefragten Meinung nach ist das äußerst bemerkenswert: Nunmehr anderthalb ereignisreiche Jahre schaffte ich es, meine achterbahnfahrende Gefühlswelt einigermaßen ins Lot zu bekommen, indem ich meinen noch so jungen Geist durch zähes Laufen von der krampfenden Folter der eingekehrten Einheitsroutine loslöste. Der strapazierte Kopf entledigte sich von jenem, mit dem man sich ursprünglich nie hatte beschäftigen wollen, die peinigende Last fiel ab, man erhielt eine unkonventionellere Sicht auf die Dinge, ließ den bisherigen Tag Revue passieren, zog logische Schlussfolgerungen, beruhigte sich ein wenig, kämpfte mit sich selbst bis zur absehbaren Erschöpfung, wähnte sich gesünder. Stressbewältigung pur. Dass mir orkanartiger Gegenwind dabei  am liebsten war, das rührt daher, dass man darin merkt, ob man etwas leistet oder nicht. Und ich merkte auch deutlich, wie ich ohne diese ausgleichende Auslastung nicht mehr wohlorientiert leben konnte. Wenn mir das Wasser einmal bis zum Halse stand, dann war ich froh über den eigens programmierten Ausweg aus der misslichen Misere. Der kräftezehrende Sport behütete mich vor der vorigen andauernden Schlaflosigkeit, welche tödlich ist für den inneren Einklang, dem ich näher als je zuvor war. Und dann kamst du. Und nichts sollte mehr helfen.

1. Weihnachtsfeiertag, 25.12.2009
17:43 Uhr

Ich kann nicht verhehlen: Ich komme nur entsetzlich schrittweise auf dich zu. Wenn ich in diesem drangsalierenden Tempo weitergehen sollte, dann wird es noch längere Zeit in Anspruch nehmen, bis ich dich vor meiner verschnupften Nase habe. Nun erhaschte ich diesen unwiderstehlichen Findling und nutze ihn jetzt als unbequeme Sitzunterlage, weil ich noch etwas loswerden will:
Weihnachten - das wahrscheinlich am heißesten ersehnte Fest des ganzen, unüberblickbaren Jahres! Halb Deutschland leidet an übertemperierter Körpertemperatur, fiebert den besinnlichen Tagen mit der zusammenkommenden Familie entgegen. Alles ist kitschig geschmückt, alle nehmen die sich nur hier bietende Möglichkeit wahr, einen aussortierten Schuhkarton mit allerlei Sinnlosigkeiten zu füllen, geben ein paar Überraschungs-Ei-Spielsachen hinein (die die von mannigfaltigen Hilfsorganisationen ausgestatten Empfänger womöglich sogar selbst hergestellt haben) und beschenken ihre verwöhnten Verwandten großzügig, vollkommen gleich, ob das gesegnete Familienmitglied schon über drei stromfressende Playstations verfügt. Der Nachbar macht es ja auch! Das widert mich an, ernsthaft. Ich versuche meinen eigenen Konsum weitestgehend herunterzufahren, bin aber selbst prinzipiell nicht anders, was einfach verständnislos verwerflich ist. Ich hoffe nun inständig, dass in den bemitleidenswerten Nachfolgegenerationen ein massives Umdenken erfolgt, aber dieser entscheidende Impuls kann nur von einem modernen Staat kommen oder von einer weitreichenden Katastrophe. Bevor diese stattfindet, bevorzuge ich den regulierten Wandel – wir haben Unmengen an Verantwortung, aber von dieser machten wir in den letzten Jahrzehnten nicht ein einziges Mal wirklich Gebrauch. Welches Elend konnten wir verhindern? Von sich abschlachtenden Hutus und Tutsis haben 90 Prozent der Deutschen noch nie etwas gehört und wollen es verständlicherweise gar nicht. Aber zu Weihnachten, da blühen unsere gestressten Gemüter plötzlich auf und die edle Bevölkerung faselt von romantischer Atmosphäre unter der mit scheußlichem Lametta beworfenen Nordmannstanne. Erstaunlich: Sogar die atheistischen Stämme scheuchen sich dann gegenseitig in die evangelische Kirche zur andächtigen Festtagsmesse. Irgendwie soll halt warme Stimmung entfacht werden. Ich hinterfrage zu diesem gegebenen Anlass dann immer, ob dieser sogenannte Gott – angenommen, er existiere – nicht viel mehr von ebenjenen Leuten halten würde, die mit ihren unruhigen Kindern einen entspannenden Spaziergang unternehmen als von solchen, die fromm das teure Haus des unantastbaren Herren besuchen.  Bemerkenswert ist, dass die nachsichtigen Naturwandler doch in der Tat mehr mit der ausgelebten Religion konform gehen, trotzdem gelten sie als lästernde Abtrünnige, weil sie sich die vermittelten Werte nicht handelsüblich über gehaltbeziehende Autoritätspersonen eintrichtern lassen.
Ich schwitze an diesem klirrend frostigen 25. Dezember nicht vor dem heimischen Kamin. Sobald die kontinuierlich fettigen Schmäuse ein Ende fanden, suchte ich in diesem Jahr stets die bedingungslose Flucht vor meinen nicht genug kriegenden Mitessern. Es ist nicht so, dass ich es nicht versuchte, mich in eine weihnachtliche Seelenlage zu begeben, wenn jedoch des überfüllten Chores traditionsreiches Weihnachtsprogramm qualitativ noch weiter absinkt, dann würde ich die begehrten Vorstellungen nicht mehr öffentlich zugänglich machen. Sicher blöd, dass man sich auf etwas verlässt. Aber das ist ja des Öfteren der Fall. Man wird reihenweise enttäuscht, wenn man anderen als sich selbst übermäßig Vertrauen schenkt. Und doch macht es der rätselhafte Mensch immer wieder. Es heißt, er nehme manchmal selbst schwierige Anstrengungen in Kauf, wenn er umso ergreifenderes Glück in Aussicht gestellt bekommt. Stellt ihn etwas nicht zufrieden, dann zeigt er allerdings selten die nötige Einsatzbereitschaft, um haarige Tendenzen wieder in ein angenehmes Licht zu rücken.
Ich packe meinen verfluchten Laptop besser ein jetzt. Ich erkenne mich ein weiteres Mal selbst wieder. Ich will das gar nicht.

1. Weihnachtsfeiertag, 25.12.2009
18:22 Uhr

Mir kommt es vor, als wäre ich schon ein halbes Leben unterwegs. Du fungierst nicht mehr als anziehender Magnet, nein, es besteht vielmehr die mentale Barriere, dass wir wohl beide negativ geladen sein könnten. Deswegen geht es nur noch so stockend voran, deswegen überlege ich längst umzukehren, deswegen muss ich mich zwingen, das jetzt durchzuziehen. Ich zittere bei -5 Grad Celsius und meine bläulich schimmernden Hände sind taub geworden. Heiligabend brachte nur exquisite Socken, keine dekadenten Handschuhe. Das unaufhörliche Tippen fällt mir schwer, aber der labile Menschlichkeitsbegriff raubt mir den sonst schon wirren Verstand.
Ich war während unserer monatelang vor sich hin plätschernden Beziehung grob unterkühlt im Umgang mit dir. Ich bereue das, aber ich vermute, dass ich zu etwas Alternativem gar nicht imstande gewesen wäre. Psychischer Krüppel; das trifft es, denke ich.
Warum?
Nun ja, ich zweifelte unabsehbar, ob ein erfolgreiches Überleben in diesem schonungslosen System nicht automatisch mit einem arroganten Verfall der urigen Menschlichkeit einhergeht. Egozentrik blendet halt alles um sich herum aus, man fixiert sich so energisch auf sich selbst, dass man irgendwann sogar seinen eigenen Wald vor lauter Bäumen und toten Winkeln nicht mehr erkennt. Dank dir habe ich erkannt, dass sich meine Menschlichkeit manchmal erst in Extremsituationen entwickelt. Denn Zustände wie Mitleid sind richtige Urgefühle und resultieren in Hingabe. Und so entsteht Frieden. Wenn man sich öffnet. Und wenn man sieht, wie Menschen leiden in diesem System, dann spornt das eher an: zu mehr Leistung, mehr Anstrengung, mehr Engagement. Ich hatte die Absicht, das außen vor zu lassen. Weil man demzufolge den Arsch hochreißen sollte. Doch da es ein unangenehmes Gefühl ist, wenn er einschläft, rappelt man sich eines Tages von alleine auf. Denn wie das System generiert auch der Mensch Antibewegungen und so rebelliert man, versucht den Zwängen der Gesellschaft zu entgehen, denn mit dem Extremum in die eine Richtung wächst auch das Extremum in die entgegengesetzte. Die Menschheit bekommt das, was sie verdient. Nur auf das Individuum bezogen, mag die Welt ungerecht sein. Was jedoch nicht bedeutet, dass es nicht besser gehen würde. Irgendetwas läuft anstandslos verkehrt. Wir bedrängen uns gegenseitig, sind von Natur aus gut, doch zusammen werden wir böse. Trotzdem suchen wir die Zivilisation und bleiben nicht einsam. Der Gemütlichkeit wegen. Insofern sind alle Vereinigungen nur Zweckgemeinschaften. Jegliche zwischenmenschlichen Verbindungen, diese irrationalen Aspekte, sind die fiktiv? Bildet man sie sich ein, um ein friedliches Leben durchführbar zu machen? Sind sie dann nicht schon wirklich, wenn sie eh real geschehen?
Ich hatte mir vorgenommen, niemals hervorzubringen, dass ich auch nur ein Mann sei. Das klingt so schwachsinnig, so bescheuert, so oberflächlich, ich würde mich gern selbst dafür ohrfeigen, dass ich mich in dieses präkulturelle Metier eingeordnet habe. Andererseits agierte ich doch an und für sich nicht abweichend vom gängigen maskulinen Verhalten. Diesbezüglich war der blöde Satz nicht fern. Heilige Scheiße.
Ich will dich immer noch.
Aber ich strauchle derzeit auf der steinigen Straße der Vergebung.
Süßes, ich lebe nur einmal!
Nein.
Stopp.
Ich weiß – du auch.
Dort liegt das Problem.
Ich bin, nebenbei, den dritten Tag in Folge wach. Ich habe höchstens 1, 2 staubtrockene Zwieback gegessen. Ich wollte gestern den hiesigen Chinesen leerräumen.
Mein exzentrischer Magen riet ab. So. Und jetzt weiter.

1. Weihnachtsfeiertag, 25.12.2009
18:52 Uhr

Mein erhabener Bauch knurrt. Ein weiterer bekloppter Grund, eine erleichternde Pause einzulegen. Eigentlich verspüre ich schon gar keinen drängenden Hunger mehr, nur noch diesen hedonistischen Trieb nach ungebrochener Begierde, unentwegter Freiheit und kurz darauf eine wundersame Apokalypsenlaune, die mir tatsächlich ein dementes Lächeln in das ansonsten ausdruckslose Gesicht treibt.
Klar, wir waren dem einsetzenden Fall in den klaffenden Abgrund geweiht, sicher machte mir das damals rein gar nichts aus, nein, ich registrierte keinen schockierenden Frust; ich empfand nur taubstumme Gier und wenn es sein konnte, zu zweit, und wenn es sein musste, alleine.
Diese unterschwellige Trauer war gewiss das unwiderleglich Verheerendste. Dein betont dezenter Unterdruck grenzte an liebenswürdige Demagogie, du versuchtest es unnachgiebig, danke dafür, aber ich brauchte dich nicht, das heißt, ich brauchte dich natürlich, aber "Wir" war nicht möglich, also vollzog ich den unvorhersehbaren Rest lieber ohne dich, bevor ich mich selbst zerstörte in meiner leidvollen Eigenbrötlerei.
Rückhalt verträgt sich nicht immer mit Rücksicht.
Unser angestrebter Fokus lagerte prinzipiell auf beidseitiger Glückseligkeit. Darum nützte es weder dir noch mir etwas, uns mit bunten Federn zu schmücken, die zwar gerade in diesem denkwürdigen Moment jedem gefallen mochten, später jedoch ohnegleichen ausfielen.
Ich wandle durch diese nasskalte Winternacht, vorbei an den schemenhaften Häuserfassaden, die tags zuvor noch in weißen Engelsanstrich getaucht waren, vorbei an dem angsteinflößenden Stadtpark, der vor kurzen Stunden noch in eine kontrastreiche Symbiose aus sattem Grün und warmem Braun erstrahlte und auch vorbei an den unbekannten Einfahrten, welche vor gar nicht allzu langer Zeit noch eher verheißungsvolle Neugierde denn zaghaftes Entsetzen hervorriefen. 
Glitzernder Asphalt lässt ein teuflisches Blitzen in meiner verengten Pupille heraufbeschwören. Ein sintflutartiger Wolkenbruch prasselt auf mich ein, doch ich warte momentan lediglich unter der unüberdachten Bushaltestelle, bis meine ausufernden Ausführungsideen ausgeschöpft sind.

1. Weihnachtsfeiertag, 25.12.2009
19:14 Uhr

Ich schwimme förmlich durch die in grelle Neonlichter getauchte Stadt, ich sehe dieses unendlich fluoreszierende Schillern, überall. Große Pfützen, schwere Hosen, dicke Tropfen, rote Augen. Der äußere Betrachter erblickt einen stagnierenden Verzweifelten, dessen ohnehin ausgeblichene Kleidung gerade von unvorstellbaren Wassermassen durchtränkt wird. Kostenlose Reinigung, hier, auf der ausgestorbenen Rathaustreppe.
Ich entschied mich, demzufolge bleibt mir nichts anderes übrig. Der peitschende Sturm ist eine ironisch passende Untermalung für meinen ungewöhnlichen Spaziergang durch die unheilvolle Finsternis. Ich verurteile Zeit meines Weges alle Zitate, die vorschreiben, dass gewisse Handlungsmaximen zunächst im blühenden Geiste entstehen und im anmutig entgegennehmenden Herzen enden.
Bei mir überwiegt nur die extremistische Natur. Die Blutpumpe liegt indessen zerhackstückelt leblos irgendwo auf dem verschrumpelten Zwerchfell, rigoros von verlangengetriebenen Maden zerfressen. Triebgesteuert. Steuer aus der Hand gegeben. Ich will woanders schweben, mir die Kante geben, den Schmerz betäuben. Hallo Welt. Hier sind 10 Euro. Kann mir bitte jemand Mut beschaffen?
Ich verliere mich in diesem albtraumhaften Yuppiemärchen. Ohne wettergeschütztem Taxi. Ohne jeglicher Gesellschaft. Ohne bodenlosem Ego. Ohne freiem Kopf.

1. Weihnachtsfeiertag, 25.12.2009
19:44 Uhr

Plötzlich stehe ich da. Nun ja. Beziehungsweise habe ich mich vor ihr niedergelassen. Vor deiner frisch gestrichenen Haustür. Vor deinem katzengoldenen Klingelschild. Die perfide Farbe blättert ab. Na und? Ist doch egal, mittlerweile.
Ich möchte läuten. Jedenfalls hatte ich das vor etlichen längst vergangenen Sekunden einmal vorgehabt. Der unerbittliche Regen perlt an mir ab. Tropf. Tropf. Ich bade in einer grauen Masse aus abstumpfenden Zweifeln. Vier Stockwerke über mir beschallt jemand das müde Viertel mit treibenden Bässen. Tropf. Tropf. Polternde Hochbahnen ziehen über mich hinweg. Tropf. Tropf. Entfernte Schritte kommen dichter. Tropf. Tropf. Verstörtes Lachen. Tropf.  Hysterische Paranoia. Tropf. Schrecken. Frösteln. Gänsehaut. Reizüberflutung. Tropf. Flucht.
Ich verdränge dein wirklichkeitsnahes Sein. Zumindest ein beträchtlicher Teil von mir tut das, - Tropf - der immer kleiner wird. Mein Zeigefinger ist geheimnisumwittert, so im gespenstischen Halbschein. Es treibt ihn in die unerwünschte Richtung des mörderischen Knopfes. Ich kann später schließlich behaupten, das wäre gar nicht ich gewesen, der für das sowieso unvermeidbare Zurückholen in die verdrießliche Realität sorgte. Das wäre quasi selbsttätig geschehen. Ich verstaue vorteilhafter fix mein digitales Werkzeug. Ansonsten denkst du noch, ich wäre verrückt geworden. Oder geblieben. Hätte nach wie vor nichts gelernt.

1. Weihnachtsfeiertag, 25.12.2009
20:45 Uhr

Zunächst: Es surrte tatsächlich irgendwann. Es surrte schauderhaft in meinen überstrapazierten Ohren. Es war ein verletzender Ton, der Mark und Bein erschütterte, um schlussendlich wieder hinter dem unverzichtbaren Trommelfell unwahrscheinlich kurzweilig nachzuhallen.
Und: Es dauerte. Es dauerte anderthalb Ewigkeiten, jeweils eine furchtbare Hälfte für meine eingeschlafenen, im weichen Schlamm versunkenen Füße, meinen in die Höhe schnellenden Blutdruck und meine betäubten Gedanken.
Und dann schwang die elysische Pforte auf. Die alten Erinnerungen flogen durch den breiter werdenden Spalt, erschlugen mich, begruben mich unter einer unmöglich verdaulichen Last aus gemeinsamen Erfahrungen, gelebter Vergangenheit, niemals verwirklichten Träumen.
Du bautest dich vor mir auf.
Grins-.
Ich riss mich zusammen, das konnte doch definitiv nicht mein verdammter Ernst sein!
Fingernägelkauen. Nö, du brauchst nichts zu sagen. Wäre halt unangebracht. Rück bloß nicht von der Stelle. Verharre einfach in deiner erschütternden Ästhetik. Gesichtszüge versteinert. Toll.
H-hi.
I- ich war g-gerade in der G-gegend, ich d-dachte, ich schaue vorbei.
Wortlos entstellt.
Ja, richtig. Verarbeite das lieber zunächst.
Ein Zucken. Da. Die Mundwinkel.
Hoch?
Oder Runter?
Lange nicht mehr gesehen.
Meine verbotene Dummheit ließ dich aus der verunsichernden Trance erwachen.
Hoch.
Pure Erleichterung.
Nein.
Runter.
Wie? Ist das alles?
Und du so?
Derart unverhohlen? Was erwartetest du? Dass ich dir in deine vertrauten Arme falle, weil du dich nicht direkt nach meinem offensichtlichen Befinden erkundigt hast?
Joa, muss ja.
Okay. Das war gut. Jetzt am besten Abwarten.
Und bei dir?
Oh. Unverhoffte Initiative meines sich umdrehenden Bauches. Rutschte mir aus Versehen heraus. Interessant darauf zu lauern, welche unfähige Körperregion als nächstes ihre wertvolle Unterstützung anbot.
Ich bin ledig. Ich bin glücklich.
Beeindruckend, wirklich. Dennoch kenne ich dich leider zu perfekt. Zu perfekt. Leider.
Wahrhaftig?
Unbeantwortete Fragen reihten sich an noch provokantere.
Es könnte nicht fassbarer sein. Mama meinte letztens, für sie wäre es für immer gewesen.
Augenblicklich taten sich zwei heikle Rätsel auf:
Erstens: Was sollte dieser verzwickte, unverhältnismäßig hochtrabend formulierte Themenwechsel, der selbstverständlich wieder auf die empfindliche, persönliche Ebene abzielte?
Zweitens: Was sollte ich da Konstruktives entgegnen?
Der kleine, doch überaus wichtige Zusatz "für immer" ist möglicherweise der epochalste Irrtum, den man aussprechen kann, denn die inständige Unerwartbarkeit von Allem und Jedem bleibt mutmaßlich das Einzige, was sich unfälschlich als unstrittig ewig herauskristallisiert. Verarsche mich nicht. Deine unausstehliche Mutter hat noch nie eine seriöse Meinung hinterlegt, verzichte aktuell doch bitte auf anständiges Verständnis meinerseits.
Dito.
Ziemlich lakonisch angebunden war die fragile Szenerie heute. Malerisch, unbestreitbar, doch stets impressionistisch gerundet, zahllose zielgerichtete Tupfer anstatt klarer Leitmotive, leicht verarbeitbare Stillleben anstelle von mühevollem Modernismus. Der herbe Haken bestand darin, dass hinter jeder argen Unauffälligkeit eine widersprüchliche Falle lauerte, über die man bekanntlich gar nicht erst grübeln durfte, wenn man nicht in der naheliegendsten abgelegenen Ecke zusammengekauert enden mochte.
Wie wir uns dergestalt gegenüber bewahrheiteten, mündete in einer trügerischen Idylle. Ich wollte ausschließlich darauf vertrauen, dass uns niemand denunzierte, anderweitig weckte unser zweckverbundenes Auftreten wahrscheinlich den irreführenden Anschein einer paradiesischen Einöde und wir waren beide geliefert.
Bei dieser jähen Gelegenheit sei ein weiteres Mal erwähnt: Bisher hatte sich nichts verändert. Du befandest dich auf der renovierungsbedürftigen Schwelle, drei unüberwindbare Stufen über mir, ich hingegen fristete mein gleichgültiges Dasein auf der von winzigen Bächen durchflossenen, pausenlos diverse Leuchtkegel reflektierenden Straße. Des Weiteren passierten keine abrupten Regungen. Wir suchten in dieser unvermeidlichen Lähmung einen ungefährdeten Grund unseres Verhaltens, unserer Gefühle, unserer Nähe. Im vertiefenden Starrsinn spiegelte sich ein zutrauliches Funkeln wider. Der knappe Frieden hier in dieser anhaltenden Melancholie war viel zu brüchig.
Buckelsitzhaltung. Hier, an dieser mit durchgestrichenen Hakenkreuzen bekritzelten Lehmmauer. Mitten in diesem trostlosen Areal. Wir machten unsere unbarmherzige Begegnung derart belanglos und fanden dann umso barmherzigere Ablenkung im unsäglichen Gespräch.
Im Schweigen starb ich jedes Mal.
Es sprudelte aus mir heraus.
Alles schön und gut, Süße, die Hauptsache ist doch, dass du glücklich bist.
Pah.
Scheiß Interjektionen.
Ich hätte nichts lieber als die ruhmreiche Kunst der gebeutelten Naivität vertreten. Wie fabelhaft und anrüchig zugleich wäre es gewesen, an diesem Punkte die Aussage "Keiner versteht mich" zu wählen, getragen von Verzweiflung und Wille zu Distanz bzw. Nähe. Aber ich tat etwas anderes. Das waren unaufnehmbare Einflüsse.
Ich kann nicht mehr und frage mich weiterhin, warum ich schneehelle Sneakers mein Eigen nenne. Papa meinte von Anfang an, dass die schnell dreckig werden. Jetzt, wo ich nicht mehr weiß, wo oben und unten ist, tue ich das, was ich am besten kann. Ich laufe.
 
2. Weihnachtsfeiertag, 26.12.2009
05:44 Uhr

Ich schwanke noch, ob diese affektierte Aktion als zumindest armseliger Erfolg zu werten ist. Mein Zimmer macht denselben resignierenden Gesamteindruck wie vor meinem ruckartigen Abgang. Obwohl: Durch die Jalousien kriecht langsam Helligkeit.
Gestern Abend bin ich unverzüglich in eine haltlose Nachtruhe versunken, mitsamt triefenden Klamotten. Um mich diesen zu entledigen, war ich nach zehn grundlosen Litern Bier zu zart besaitet. Mit ihnen zählte ich mich rückwärts sehr tief in den Schlaf.
Rückblick: Ich habe dich geküsst. Ob es den endgültigen Abschied markierte, das vermag ich nicht zu entscheiden. Ob ich heuchlerische Reue empfinde; diese anfechtbare Antwort liegt schon mehr in meinem ansonsten begrenzten Vermögen: Nein. Es überkam mich. Vielleicht gibt es schönere Zeiten; aber diese hier ist die unsere. „Endorphinausstoß“, das wäre untertrieben. Ein Kopfschuss aus Glückshormonen gab mir den Gnadenstoß. Und obschon an diesem unglaublichen Orte nun der einzige Wunsch aufkam, dass es hier nicht enden sollte, dass es hier um Himmels Willen nicht enden sollte, bin ich daraufhin gegangen, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Und das Schlimmste daran: Meistens gehen Einäugige nicht mit einem lachenden und einem weinenden Auge vom blutigen Schlachtfeld.
Ich bin hin und weg. Mein glasiger Blick senkt sich auf den durchschnittlich anzusehenden Buchenholzschreibtisch, der einst verzierendes Beiwerk für den jugendlichen Elan in diesem persönlich gestalteten Raum war. Widerwillig schaue ich mein mich betrachtendes Spiegelbild an. Mir fällt auf, dass ich lache.
Ich hatte nie vor, mich jemandem bedingungslos hinzugeben. Denn das führt zu verderblicher Willenlosigkeit und die kann ich mir nicht leisten. Man darf sich immer aussuchen, ob man in Freiheit oder in Sicherheit leben möchte. Vertrauen oder Kontrolle, Spritzigkeit oder Stagnation, Seitensprung oder Treue? Vorlieben sind unterschiedlich, doch das Ziel ist die Glückseligkeit. Das Ziel ist, Erfüllung zu finden. Menschen probieren das auf ganz verschiedene Arten und Weisen. Ich muss dafür wissen, ob es sie gibt, die Liebe. Ob sie existiert. Einzig und allein sie ist dazu in der Lage größtmöglich und langfristig glücklich zu machen. Denn überall hast du irgendwann einen bestimmten Punkt erreicht, an dem es nur noch abwärts gehen kann und dein Glück ist nur quantitativ, von kurzweiliger Dauer. Wenn Liebe nicht gleichzeitig Zurücknehmen heißt, dann ist dieses Gesetz ausgehebelt. Pure Liebe resultiert nicht in Entbehrungen, aber sie ist wandelbar und für jeden erreichbar, dessen Emotionen noch nicht verrohten.
Im Wissen von der Liebe erhältst du die Möglichkeit der Glückseligkeit.
Lieber unglücklich verliebt als unverliebt glücklich.