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Daniel Sanders - Anforderungen an guten Stil

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Daniel Sanders war mit ganzem Herzen Lehrer, denn er wusste, dass die Zukunft von der Jugend abhängt. Er wollte Jungen und schon damals ausdrücklich auch Mädchen befähigen, den Anforderungen der modernen Welt in Beruf und Öffentlichkeit gerecht zu werden. Sie sollten in der Schule etwas fürs Leben Brauchbares lernen. Dem Unterricht in den "toten" Sprachen Latein und Griechisch stand er eher skeptisch gegenüber; die modernen Sprachen Europas schienen ihm wichtiger.
Im Leben spielten sprachliches Können damals wie heute eine herausragende Rolle; ohne die Fähigkeit zu klarem und unmissverständlichem Ausdruck und ohne den Mut der Einzelnen, sich in einer Gesellschaft oder Gemeinschaft zu Wort zu melden, kann ein demokratisches Gemeinwesen und eine Wissen- und Informationsgesellschaft nicht gedeihen.

Sanders Stilideal lässt sich durch folgende Begriffe umreißen: Klarheit, Einfachheit, Verständlichkeit, Deutlichkeit. Aber natürlich sind diese Ziele relativ weit interpretierbar und haben in jeder Zeit ein anderes Gesicht.
Bei Sanders richtete sich das Ideal der Klarheit gegen rhetorisch-stilistische Auswüchse seiner Zeit, bei denen der Inhalt und der Zweck einer Äußerung allzu leicht hinter ornamentalem Redeschmuck verschwand.
Die Ideale der Einfachheit und Verständlichkeit hängen mit Sanders Demokratieverständnis zusammen: Die Wahl der sprachlichen Mittel soll den Adressatenkreis eines Buches oder eines Aufsatzes nicht auf bestimmte fachlich ausgebildete Leute beschränken und andere ausschließen. Die Ideale der Einfachheit und Verständlichkeit wenden sich damit auch gegen eine Form der Bildungssprache oder des Fachjargons, die viele Adressaten von vornherein ausschließt oder ihnen vermittelt: ‚Ihr seid hier gar nicht gemeint’.
Das Ideal der Deutlichkeit geht auf eine schon im Barock zu findende Vorstellung zurück, nach der es für eine Sache den einen angemessenen Ausdruck gibt, den man nur zu finden wissen muss. Stand beim Ideal der Einfachheit und Verständlichkeit die Beziehung zwischen Schreiber und Leser, Sprecher und Hörer, das Eingehen des Sprechers auf die Hörer im Zentrum, so geht es bei der Deutlichkeit um das Verhältnis zwischen Wort und gemeinter Sache – bei gutem Stil muss auch die "stimmen".
Eines von Sanders größten Werken, der Deutsche Sprachschatz, hat bezeichnenderweise den Untertitel: "... geordnet nach Begriffen zur leichten Auffindung und Auswahl des passenden Ausdrucks. Ein stilistisches Hilfsbuch für jeden Deutsch Schreibenden"(1873-1877).
Schon in seinem großen Wörterbuch der deutschen Sprache hat er auf genaue und klare Definitionen der Wörter das Schwergewicht gelegt, im Gegensatz übrigens zu den Brüder Grimm. Bei ihnen lag das Schwergewicht nicht auf den Definitionen, sondern auf der Geschichte der Wörter, die sich oft sehr von der jeweils aktuell geltenden Bedeutung unterscheidet.
Klarheit und Deutlichkeit heißt auch Eindeutigkeit, nicht Zweideutigkeit des Ausdrucks. In seinem Wörterbuch der Hauptschwierigkeiten in der deutschen Sprache – ein Werk, das 1872 erschien und 44 Auflagen bis weit in unser Jahrhundert hinein erlebte, ist der Artikel "Zweideutigkeit" besonders lang. Hier zählt Sanders etliche Stolpersteine auf, die die geforderte Eindeutigkeit des Ausdrucks verhindern können. Dazu gehören etwa grammatische Zweideutigkeiten nach dem Muster "da wo die Elbe die Havel aufnimmt" Sanders argumentiert, das sei grammatisch unklar und es hieße besser: "da wo die Havel in die Elbe fließt". Oder: ein Genitiv, der sowohl als objektiver als auch als subjektiver aufgefasst werden kann, z.B. "der Hass der Tyrannen", Sanders schlägt vor: "der Hass gegen die Tyrannen" oder "der Hass, den die Tyrannen hegen".

Ziel von Sanders Stilideal war – ich habe es schon angedeutet – die Beherrschung der Sprache als eines Instrumentes, das das Individuum so gut wie die bürgerlich-demokratische Gesellschaft als Ganze brauchen: das Individuum, um die ihm gestellten Anforderungen zu bestehen, und die Gesellschaft, um überhaupt demokratisch funktionieren zu können, denn dazu gehört das Gespräch, der Austausch von Meinungen und Argumenten, das Überzeugen (nicht das Überreden!), die Bildung von Konsens in der Politik, in der Presse, in der privaten Zusammenkunft. Auf den Punkt gebracht: Sanders Vorstellung sprachlicher Bildung hatte die Mündigkeit des Individuums in der Gesellschaft zum Ziel. Und hierin ist er in einer Weise aktuell, die der Daniel-Sanders-Sprachpreis wieder aufgreifen möchte.

Nur noch eingeschränkt gültig ist hingegen Sanders Stilauffassung. Warum? Wie man an den obigen Beispielen sehen konnte, machen sich Sanders Stilideale an einzelnen Wörtern und grammatischen Erscheinungen fest, so dass man daraus quasi eine Hitliste guter Stilmittel ableiten könnte.
Hohe und niedere Stilebenen zu unterscheiden war mit Bezug auf einzelne Wörter des Deutschen erst um 1800 üblich geworden, natürlich mit dem Ziel, die niederen Wörter zu meiden und die hohen so oft wie möglich zu benutzen. Die Annahme solch absoluter Stilebenen und der eindeutigen Zuordnung der Wörter zu einer der Ebenen entspricht aber nicht der sprachlichen Wirklichkeit, der heutigen noch weniger als der der alten Ständegesellschaft.

Was guter Stil, was eine passende Ausdrucksweise ist, entscheidet sich immer in Rücksicht auf die Adressaten, die Situation und den Zweck eines schriftlichen oder mündlichen Textes. Ein und dasselbe Wort, ein und dieselbe Formulierungsart kann in der einen Situation passend, in der anderen unpassend sein. Wer z.B. einen Brief an den Ministerpräsidenten schreibt, wird sich tunlichst anders ausdrücken als in einem Brief an Verwandte oder Freunde. Wer eine Mitteilung für Fachkollegen verfasst, wird z.B. über dieselbe Sache anders schreiben, als wenn er sie in einem Pressebericht der Öffentlichkeit vermitteln will. Über Privates schreibt und redet man anders als über Berufliches, und das mit gutem Grund. Erst im Ansatz sind bei Sanders solche Relativierungen der Stilebenen zu erkennen.
Die heutige sprachwissenschaftliche Stilistik spricht von Textsortenstilen und von einer kommunikativen Stilistik. Kommunikativ daran ist, dass die jeweiligen Adressaten, die konkrete Situation und der Zweck einer Mitteilung den Ausschlag für die angemessene Wahl der sprachlichen Mittel geben.

Dennoch sind etliche von Sanders Ratschlägen zur Vermeidung von Zweideutigkeit und Unklarheit nicht obsolet geworden. Man muss sie heute nur stärker auf den jeweiligen kommunikativen Rahmen beziehen. Die Beispiele von Havel und Elbe und vom Hass der Tyrannen verlieren ihre Plausibilität weitgehend, wenn man sie sich in einem Textzusammenhang vorstellt. Oder im Zusammenhang geografischen und historischen Wissens. Der Kontext vereindeutigt mehrdeutige Ausdrücke in aller Regel. Das gilt etwa seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als sprachwissenschaftlicher Kenntnisstand. Ein Wort wie Kopf hat in Sanders‘ Wörterbuch 21 verschiedene Bedeutungen, im heutigen Duden sind es nicht viel weniger. Dennoch haben wir bei Kopf kaum jemals Verständnisschwierigkeiten, eben weil der Text- und Satzzusammenhang die Bedeutung einengt und so weit festlegt, wie gerade nötig.

Man hat sprachliche Phänomene früher sehr viel isolierter betrachtet als heute, wo man anerkennt, dass es in der Sprache nichts Isoliertes gibt, sondern alles ein Gewebe darstellt, dessen Teile funktional aufeinander bezogen sind. Aber der gute, nachvollziehbare Aufbau eines Textes ist ein Kriterium für Klarheit und Verständlichkeit geblieben. Heutzutage muss jeder über ein mehr oder weniger umfangreiches stilistisches Repertoire und über ein Repertoire von Textsorten (Gattungen) verfügen. Man braucht mehrere, unterschiedliche Register, um den jeweils richtigen Ton zu treffen.
Es ist dabei wohl eher nebensächlich, ob die Registerkompetenz durch Übung unbewusst gewachsen oder durch bewusstes Reflektieren entstanden ist.

Prof. Dr. Ulrike Hass (1998)